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Plötzlich Rabenmutter? Vorstellung & Rezension

Plötzlich Rabenmutter

Lisa Frieda Cossham, die ihre Erfahrungen als Teilzeit-Mutter schon in einer Kolumne im SZ-Magazin geschildert hat, berichtet in ihrem neuen Buch davon, wie es ist, nur jede zweite Woche die Rolle der Mutter zu übernehmen.

„Plötzlich Rabenmutter? Wie ich meine Familie verließ und mich fragte, ob ich das darf“ ist im Januar im Blanvalet Verlag erschienen.

Mit Anfang 20, mitten im Studium, wird Lisa Frieda Cossham Mutter. Der Vater und sie sind seit Teenagerjahren ein Paar und managen das Elternsein sehr entspannt. Sie teilen sich die Verantwortung, die Erziehung und die Kinderbetreuung ganz paritätisch, beide können sich ihre Freiräume nehmen und auch mal etwas ohne Kind unternehmen, Freunde treffen, alleine ausgehen. Die zweite Tochter folgt mit zwei Jahren Altersabstand.

Sie integrieren die Kinder wunderbar in ihr Studentenleben und später auch ins Berufsleben. Als die Beziehung dennoch scheitert, einigen sie sich auf das Wechselmodell: die beiden Töchter, zu dem Zeitpunkt 9 und 11 Jahre alt, verbringen im Wechsel jeweils eine Woche bei ihrer Mutter und bei ihrem Vater.

„Nach der Auflösung einer modernen, gleichberechtigten Beziehung scheint eine  Erziehungspartnerschaft nahe liegend.“ (S. 87)

„Die paritätische Erziehungspartnerschaft lockert Beziehungsgeflechte, ohne sie zu zerreißen. Das vermittelt den Kindern das sichere Gefühl, weiterhin in einem Familienverbund zu leben, fordert aber alle heraus, trotz der alten Nähe eine neue Rolle einzunehmen und führt mitunter zu verwirrenden Momenten, die wir aushalten müssen und die aber, so hoffe ich, weniger Schaden anrichten als ein Kontaktabbruch.“ (S. 181)

„Mein Verhältnis zu den Kindern ähnelt einer leidenschaftlichen Affäre.“

Eigentlich ein perfektes Modell, findet die Autorin. Doch sie hat lange Schwierigkeiten, sich in ihrer veränderten Mutterrolle zurecht zu finden.

„Mein Verhältnis zu den Kindern ähnelt einer leidenschaftlichen Affäre. Ich vermisse und verlange sie, und halte ich sie in den Armen, habe ich bald genug. Ich schneide dann Zwiebeln. Hänge Wäsche ab oder kontrolliere den Posteingang. Ich weiß, anderen Eltern geht es genauso. Wir teilen schließlich keinen Termin, sondern das Leben. Aber als Teilzeit-Mutter hat meine Unaufmerksamkeit härtere Konsequenzen, fürchte ich.

Ob ich mich später um die geteilte Zeit grämen, am Ende meines Lebens bereuen werde, mich nicht intensiver, bedingungsloser den Kindern gewidmet zu haben? Das Ringen um eine erfüllte, gemeinsame Zeit beschäftigt alle berufstätigen Eltern. Teilzeiteltern aber haben andere Voraussetzungen. Sie leben in getrennten Haushalten und sind nicht immer verfügbar. Die familiäre Nähe in guten wie in schlechten Zeiten ist nicht selbstverständlich. Sie muss gesucht, gestaltet, gepflegt werden. Und das birgt Chancen.“ (S. 76)

„Das ist mütterliche Norm, von der ich abweiche“

Plötzlich RabenmutterSie vermisst ihre Töchter und muss sich zudem – vor allem vor sich selbst aber auch vor ihrer Umwelt – dafür rechtfertigen, dass sie keine Vollzeitmutter ist, dass ihre Töchter nicht die ganze Zeit bei ihr leben.

„Die Teilzeitbeschäftigung der Mütter ist akzeptiert, solange sie nicht die Erziehung der Kinder meint. Es scheint sich für Frauen zu gehören, dass sie der Vollzeiterziehung nicht widerstehen können: Gut, dann übernehme ich das eben, die Kinder, den Haushalt, die Ferienplanung. Gerne bleibe ich zuhause, wenn ein Kind kränkelt. Wem das kein Bedürfnis ist, ist selber krank. Das ist mütterliche Norm, von der ich abweiche, das zeigen die Kommentare zu meiner Kolumne.“ (S. 105)

Der Vater leidet in den ersten Monaten noch sehr unter der ungewollten Trennung, was die Töchter mitbekommen und was sie gegen die Mutter einnimmt. Das ändert sich jedoch glücklicherweise, als der Vater eine neue Frau kennenlernt, die ebenfalls zwei Kinder hat, und mit der er und seine Töchter schnell zusammenziehen und eine Patchworkfamilie bilden.

Die Töchter fühlen sich in beiden „Zuhausen“ wohl, was vor allem möglich ist, weil beide Eltern nicht allzu weit voneinander entfernt wohnen bleiben – und, weil beide Eltern noch miteinander reden können und Absprachen dadurch möglich sind.

Und Absprachen sind notwendig und wichtig, sowohl was Erziehung angeht als auch Urlaube und die meisten sonstigen Alltagsdinge. Regelmäßig treffen sich die vier Eltern (auch die neue Partnerin des Vaters lebt mit dem Vater ihrer Kinder das Wechselmodell) und besprechen, was anliegt.

„Partnerschaft endet, Elternschaft nie, schreiben Experten. […] Unser gemeinsamer Versuch, zwei geteilte Familien so gut und so oft es geht zusammenzuführen, uns als familiäre Einheit zu begreifen, fühlt sich an manchen Tagen an, als würde ein kleines Pflaster über eine zu große Wunde gelegt. Er überfordert uns. Die Vergangenheit ist zu präsent, um sie zu einer unbeschwerten Gegenwart zu erklären. Und doch hilft mir unsere Patchworksituation, mich von alten Mustern und Vorstellungen zu lösen.“ (S. 176)

„Die Ansprüche an eine gute Mutter haben sich vervielfältigt“

Das Buch zeigt, dass in unserer Gesellschaft noch immer oft gewollt wird, dass Frauen als Mütter ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen, und sie erstmal als Rabenmütter, als schlechte Mütter, abgestempelt werden, wenn sie es nicht tun – ganz unabhängig davon, welche Beweggründe es gibt.

Warum sollte Frau nicht auch ihre Karriere in den Vordergrund stellen, wie es viele Väter machen? Sehr passend bezieht sie sich hier auf die Anweisungen für Fluggäste im Falle eines Druckverlustes: erst sich selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen, dann für die Kinder sorgen. Auf das Familienleben übertragen bedeutet das: erst wenn es einem selbst als Eltern gut geht, kann man auch entsprechend gut für die Kinder sorgen. Nur wenn es mir selbst als Frau gut geht, kann ich auch eine gute Mutter sein.

„Tatsächlich aber lastet ein hoher Druck auf den Rollenbildern. Die Ansprüche an eine gute Mutter haben sich vervielfältigt. Sie soll ihrem Beruf nachgehen und gleichzeitig nachmittags mit den Kindern Hausaufgaben machen. Sie soll präsent und unabhängig sein. Dieser Widerspruch macht uns zu Über- oder Rabenmüttern, zu Latte-macchiato-Müttern und Frauen, die »bitte einfach nur Mütter« sein wollen und das Gefühl haben, dass sie das nicht mehr dürfen.“ (S. 90)

Das Buch liest sich auch als Plädoyer für das Wechselmodell, wobei die Autorin immer wieder betont, dass jede Familie die für sie beste Lösung finden muss.

„Ihre Angst [die der Kinder], ein Elternteil zu verlieren, ist gering. Vater und Mutter bleiben gleichermaßen als Bezugspersonen präsent, ihre Trennung steht deshalb thematisch nicht so sehr im Vordergrund wie für Kinder, die im Residenzmodell aufwachsen und hauptsächlich von der Mutter betreut werden.“ (S. 185)

Es werden viele Studien angeführt und die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet, was sehr interessant zu lesen ist, nicht nur für betroffene Eltern-Leser. Die Autorin berichtet nicht nur von ihren eigenen Erfahrungen, sondern hat auch ausgiebig recherchiert. In ihrer Kolumne für das SZ-Magazin ist sie von vielen Lesern in den Kommentaren kritisiert und teilweise beschimpft worden – ihr Buch soll sicherlich keine Rechtfertigung darstellen, aber manche der Kommentatoren sollten es vielleicht lesen und so Hintergründe und Beweggründe verstehen lernen.

„Denn wie wir erziehen zeigt, wer wir sind. Wir vermitteln die Werte, die wir leben. Und so stehen hinter manchen Erziehungsvorstellungen ganze Weltanschauungen, wie die Soziologin Christina Mundlos in ihrem Buch Mütterterror beschreibt. Mundlos nennt die Auseinandersetzungen ‚emotionalisierte Kleinkriege’, ausgelöst durch bestimmte Reizthemen wie zum Beispiel Impfen, Stillen, Kinderbetreuung.“ (S. 79)

„Ich bin nicht weniger, sondern mehr Mutter als zuvor“

Im Kapitel „Diskussionen um das richtige Muttergefühl“ beschäftigt sich Lisa Frieda Cossham ausgiebig mit dem Phänomen Regretting Motherhood, zitiert dabei Studien und Zeitungsartikel. Sie setzt sich kritisch auseinander mit der gesellschaftlichen Norm, dass eine Frau alle eigenen Bedürfnisse der Erfüllung ihrer Mutterpflichten unterzuordnen hat.

„Nach den unerwartet heftigen Reaktionen hat Orna Donath aufgeschrieben, wie es zu ihrer Studie kam, welche Gefühle und Konflikte die von ihr interviewten Frauen quälen. In der Einleitung ihres Buches Regretting Motherhood schreibt sie: ‚Die lebhafte Debatte in Deutschland über das Thema Reue bezog sich hauptsächlich auf das Konzept ›perfekte Mutter‹ versus ›Rabenmutter‹ und zeigt, dass wir es hier neben der Reue selbst mit einer großen Bandbreite von Emotionen zu tun haben, die sehnlich darauf warten, geäußert zu werden.’“ (S. 82)

Ein wirklich gelungenes Buch, gut geschrieben und inhaltlich wichtig. Die Autorin wirkt sympathisch und man kann ihre Beweggründe gut nachvollziehen. Sie schildert ihre Erlebnisse einfühlsam und verständlich. Der Buchtitel ist reißerisch gewählt, aber warum auch nicht? Wenn man als Frau als Rabenmutter abgestempelt wird, weil die Kinder nicht komplett bei einem wohnen, während der Vater für Gleiches positiv bewertet wird, warum dann nicht auch damit provozieren?

Die Autorin möchte mit ihrem Buch „andere Teilzeiteltern […] trösten und den Problemen, vor denen wir stehen, eine Plattform […] geben“ und aufzeigen, dass dieses Wechselmodell ein machbares und gutes ist. Ich denke, das gelingt ihr gut.

„Ich habe mich gefragt, ob ich meine Familie verlassen darf. Ob halbe Mütter sich zwangsläufig in Rabenmütter verwandeln, und ob meine Töchter, hin- und hergerissen zwischen zwei Haushalten, als bindungsgestörte, entwurzelte Wesen enden. Andererseits habe ich nach zwei Jahren Wechselmodell verstanden, dass ich meine Familie nicht verlassen und verloren habe. Ihre Form hat sich verändert, mein Verständnis von Familie geweitet. […] Mit meinem Auszug hat meine Familie ihre Selbstverständlichkeit verloren, plötzlich musste ich mich noch einmal für sie entscheiden. Mutter sein wollen. Das hat mein Verhältnis zu den Kindern verdichtet und präzisiert. Ich bin nicht weniger, sondern mehr Mutter als zuvor: bewusster, entschiedener, aufmerksamer.“ (S. 211 f.)

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Quellnachweis Titelbild: Vitaliy Karimov, shutterstock.com

Über die Autorin

Janine Plitsch ist zweifache Mama und Buchhändlerin mit Leidenschaft. Die Gründerin von mamour hat in ihren Schwangerschaften selbst alles verschlungen, was ihr zum Thema in die Hände gefallen ist – jetzt hilft sie anderen (werdenden) Müttern und Vätern, die besten Bücher rund um Schwangerschaft, Babyzeit und Co. zu finden.

Janine Plitsch