Wie gewaltfreie Kommunikation, Vertrauen und Verantwortung im Alltag mit Kindern helfen kann, weiß Hanna Grubenhofer aus eigener Erfahrung mit ihren sieben Kindern. In ihrem „Zauberbuch Familienfrieden“ lässt die Psychologin andere Eltern an ihrer Erfahrung teilhaben.
Ein typischer Wintertag, wie einer von vielen in letzter Zeit. Es ist kalt, neblig und nicht sehr einladend hinaus zu gehen. Etwas erkältet sind die Kinder auch, und mein Aktivitätspegel ist im Winter ziemlich runter gefahren, ich könnte mit einer Tasse Tee und einem guten Buch tagelang auf Sofa verbringen.
Nicht so meine Kinder, vor allem nicht die Jüngeren. Moritz ist gerade dabei, die Welt auf zwei Beinen zu entdecken und freut sich über jede offen gelassene Zimmertür seiner älteren Geschwister, durch die er hineinhuschen kann, um eine neue, spannende Welt zu entdecken.
Tim möchte mit seinen drei Jahren unbedingt schon mit seinen älteren Geschwistern mitspielen, was manchmal auch gut gelingt, aber eben nicht immer. Sarah liebt es gerade, in die Welt von Feen und Elfen einzutauchen und das ganze Zimmer in eine Phantasiewelt zu verwandeln.
Und Jakob und Benjamin, sieben und neun Jahre, lieben es, die ausgefallensten Fahrzeuge zu konstruieren.
So heimelig und kuschelig wie es sein kann, genau so dicht und konfliktgeladen kann es auch sein.
Für die einen die gute, für die anderen die schlechte Mutter
Tim, der gerade mit Sarah eine Höhle gebaut und dort mit all den Elfen gespielt hat, gerät mit Moritz in einen Streit. Er kommt zu Moritz und schnappt sich dessen Traktor. Moritz ist empört, sein neues Weihnachtsgeschenk überlässt er nicht einfach seinem größeren Bruder.
Tim zieht am Traktor und versucht damit wegzulaufen, während Moritz ihn festhält. Ich kann gerade noch meine Hand vor Tims Wange halten und vermeiden, dass Moritz kräftig hinein beißt. Beide weinen und Sarah meldet aus dem Nebenzimmer „Tim, wo bleibst du, die Einhörner haben Hunger und brauchen Heu!“.
In meinem Kopf erklingen Stimmen wie „Das kann doch nicht sein, dass der einfach zubeißt!“ und „Das Kind muss endlich teilen lernen, der braucht den Traktor doch ohnehin gerade nicht.“ „So eine Frechheit, der Große kann doch nicht dem Kleinen etwas wegnehmen!“
Sätze, die ich immer wieder in meiner eigenen Kindheit von Großeltern und Tanten so oder ähnlich gehört habe. Und würde ich nach diesen alten Mustern handeln, dann wäre es jetzt meine Aufgabe zu entscheiden, was als nächstes passiert, ich wäre die Richterin, die das Urteil fällt, wer den Traktor bekommen darf.
Und wäre für ein oder zwei Kinder die gute, für die anderen die schlechte Mutter.
Gefühle und Bedürfnisse erkennen
Einmal tief durchatmen, ich bin im Hier und Jetzt bei meinen Kindern, die gerade Wege finden, ihr Bedürfnis zu erfüllen. Mit meinen „gewaltfreien Kommunikations-Ohren und -Augen“ möchte ich erfahren, wie es ihnen gerade geht und warum sie was brauchen, also das Gefühl und das Bedürfnis hinter der Strategie entdecken.
Ich setze mich zu den beiden auf den Boden und halte den Traktor in der Mitte der beiden. Ich beginne mit Tim, bei dem ich gerade erahnen kann, was er macht: „Du bist gerade mit Sarah beim Tierefüttern und brauchst ein Fahrzeug, um das Heu zu den Einhörnern zu bringen?“ – „Ja“, sagt Tim und zieht weiter am Traktor. „Und das ist dein neuer Traktor, den du gerade bekommen hast, Moritz, der ist dir ganz wichtig?“ – „Mir“, sagt Moritz.
„Also, Tim braucht ein Fahrzeug, um die Tiere zu füttern, und du Moritz, möchtest den Traktor nicht hergeben. Was können wir da machen?“ Schweigen, beide ziehen weiter an dem Traktor.
„Ich sage euch mal, was mir einfällt. Vielleicht finden wir ein anderes Fahrzeug, mit dem die Einhörner ihr Heu bekommen können, z.B. mit dem Kran, den Du bekommen hast, Tim. Vielleicht möchte Moritz euch beim Füttern helfen. Oder ihr macht einen Tausch und Moritz kann den Kran einmal ausprobieren? Oder ihr führt die Einhörner heute mal zum Heu?“
Ich sehe, wie die beiden überlegen, welche Strategie für sie in Frage kommt. „Ich Heu“, sagt Moritz. „Ah, du möchtest das Heu den Einhörnern bringen?“ frage ich nach und Moritz nickt. „Wie ist das für dich Tim, kann Moritz das machen?“
Tim schüttelt den Kopf, Sarah möchte nicht, dass Moritz ins Zimmer kommt. Pause. „Gut, was können wir dann machen?“, frage ich. „Ich kann den neuen Zug von Moritz nehmen und den Anhänger beladen“, schlägt Tim vor. „Du kannst ja mal fragen, ob das passt?“, entgegne ich.
Tim fragt: „Moritz, darf ich mir deinen Zug ausleihen und ich bringe ihn dann gleich wieder zurück?“ Moritz lässt den Traktor, den wir drei noch immer halten, los, holt den Zug und gibt ihn Tim: „Du Tug, ich Trtr“.
„Tim darf jetzt den Zug und du fährst mit dem Traktor?“, übersetze ich. „Trtr auch Heu“, strahlt Moritz mich an. „Ah, ihr sollt beide das Heu holen!“ „Nein!“, brüllt Tim, er will alleine mit Sarah spielen. „Und wie wäre es, wenn ihr Moritz etwas Heu herausbringt, damit er da die Tiere füttern kann und ihr die Einhörner?“
Sarah, die das alles nebenan gehört hat, kommt gleich mit einer Fuhre „Heu“, Moritz ist begeistert und beginnt gleich mit dem Aufladen. Tim und Sarah verschwinden im Nebenzimmer.
Durchatmen und Tee trinken
Ich bleibe noch ein wenig bei Moritz sitzen und möchte ihm noch Worte für all die Gefühle geben, die gerade hier waren: „Das war jetzt ganz schön aufwühlend, oder? Du hast diesen Traktor so gerne und magst ihn einfach nicht hergeben. Da kannst du ganz schön wütend werden, wenn ihn Tim einfach schnappen möchte. Und jetzt bin ich froh, dass ihr so eine gute Lösung gefunden habt, und freu mich, dass Tim mit Deinem Zug fahren kann.“
„Trtr mir“ sagt Moritz und fährt das Heu zu seinen Kühen. Nach einiger Zeit kommt Tim mit dem Zug zurück, alle Tiere sind versorgt. „Du hast dich ganz schön erschrocken, als Moritz dich beißen wollte, oder?“ Tim nickt. „Ich bin froh, dass er dir nicht weh getan hat und ich freu mich, dass du da so lange gewartet hast und so geduldig warst, bis ihr eine gute Lösung gefunden habt.“ Tim sieht mich strahlend an.
Und ich kann nochmal durchatmen und jetzt endlich meinen Tee trinken!
Zauberbuch Familienfrieden
Das Modell der gewaltfreien Kommunikation bietet mir die Möglichkeit, eine Situation objektiv zu beschreiben ohne zu werten, das ausgelöste Gefühl zu erkennen sowie das dahinterliegende Bedürfnis. Sobald mir klar ist, welches Bedürfnis „hungrig“ ist, gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, dieses Bedürfnis zu erfüllen.
Welche davon die passende Strategie ist, können nur der oder die Beteiligte/n selbst wissen. Auch wenn so eine Diskussion länger dauert als ein schneller Urteilsspruch, so gibt es hier kein „gut“ und „böse“ und die Strategie ist nachhaltig, da sie für alle Beteiligten stimmig ist.
Für mich ist es als Mutter jedes Mal eine Überraschung, zu sehen, auf welche Lösungen die Kinder kommen. Bei dem obigen Beispiel hatte ich vermutet, dass Moritz an sich mit den beiden mitspielen wollte, doch das war gar nicht der Fall und er hat an diesem Nachmittag viel Zeit mit seiner neuen Beschäftigung verbracht.
Und wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wo oft Erwachsene für uns in einem Streit entschieden haben, so war das Gefühl am Ende nie gut: Entweder war ich die Böse, die etwas nicht bekommen hat, oder ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich die Siegerin war. Beides war für Freundschaft unter uns Kindern nicht förderlich und ich freue mich zu sehen, wie es bei meinen Kindern nun anders ist.
Diesen anderen Blick, die Ruhe und die Gewissheit, dass wir alle mit den besten Absichten stets handeln, begleitet mich schon lange, mit meinen Kindern seit fast 17 Jahren besonders intensiv. In meinem Buch „Zauberbuch Familienfrieden“ verbinde ich die Theorie der gewaltfreien Kommunikation mit eigenen Erfahrungen, den Möglichkeiten, die „Kurve doch noch zu kratzen“ und möchte Eltern und Personen, die mit Kindern in Kontakt sind, dabei unterstützen, ihren eigenen authentischen Weg zu gehen.
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Über die Autorin
Hanna Grubhofer ist Diplom-Psychologin und Trainerin in gewaltfreier Kommunikation. Die Hebamme von Gefühlen und Bedürfnissen lebt mit ihrem Mann und ihren sieben gemeinsamen Kindern am Rande von Wien. Im Rahmen ihres Kleinuniversums versteht sie sich als Freudentänzerin, Kummerkasten, 24-Stunden-Betreuerin und Logistik-Managerin. Hanna ist professionelle Chillerin und von Herzen gerne Mutter.
“Für mich ist es als Mutter jedes Mal eine Überraschung, zu sehen, auf welche Lösungen die Kinder kommen. ”
Hanna Grubhofer
Quellennachweis Titelbild: marcogarrincha, Shutterstock.com